Optimierungswahn & Paradiesversessenheit

Optimierungswahn

Alle sind die Besten und noch immer besser

Wer den Himmel verspricht, schafft meistens die Hölle. Der Satz ist nicht von mir, aber er stimmt.

Ich glaube, dass es inzwischen sicher bereits 100.000 Germanys TOP-Speaker „Nummer 1!“ der German Speaker’s Assoziation gibt, die alle genau dassselbe lernen, alle den Hyper-Optimismus auf genau dieselbe schreiend geniale Art darbieten, das angeblich ultimative Wissen von Happyness und Positiveness und Moneyness … exklusiv, erfolgreich, performancestark … nee, in Wahrheit wahnsinnig naiv und undifferenziert, ja geradezu verlogen. So langsam kriege ich echt das Gliederzucken, wenn ich Tschakka-Tschakka-Geschrei höre. Oder glauben Sie etwa an das Hundertfünfzig-Prozent-Glück und zwar A L L E R und immer und jederzeit?

Wer den Himmel verspricht, schafft meistens die Hölle. Optimierungswahn wird zum Zwang, wird zur Diktatur aus reiner Paradiesversessenheit.

Optimierungswahn – Paradiesversessenheit

Man nennt das Eschatologie, wenn Menschen meinen, alles verbessern zu müssen und zu können. Die Gesellschaft muss notfalls gepeitscht werden zur Perfektheit. Optimierungswahn endet immer in Unfreiheit.

Wenn ich Berichte von Klienten aus den großen Konzernen höre über inkompetente Chefs und jene andere Berichte über tagelange Trainings, in denen Trainer, die nie Unternehmensverantwortung hatten, anderen das Führen beibringen wollen und sich dabei purzelbäumig überschlagen vor strotzender Genialität und Kreativität und Originalität und alle haben sie dieses hyperoptimistische Strahlegesicht aufgesetzt, bei dem man als Normalsterblicher sowieso schon schlechtes Gewissen kriegt, dann kann ich nur ein Wort denken, das heißt: Das ganze Optimierungs-Geschwafel ist Lüge und zutiefst unbarmherzig.

Wie, Sie sind krank?

Wer krank ist, hat was falsch gemacht. Wer alt und zittrig ist, hat vermutlich gar alles falsch gemacht – der Optimierungswahn schließt Fehlschläge aus. Im uneingeschränkt Positiven darf es keine Abweichung vom Perfekten geben. Alter und Sterben werden ausgeklammert. Das ist Vogel-Strauß-Politik.

Klar! Wenn Sie die Bestellungen-beim-Universum- und ähnliche Bücher gelesen haben, dann könnten Sie nämlich gefälligst wissen, dass Sie einfach was ganz verkehrt machten, wenn Sie krank werden. Wenn man das richtig gelesen und kapiert hat und anwendet, dann wird man himmelhoch-glücklich. Nicht krank. Man stirbt dann wahrscheinlich auch nie. Die Omas und Opas in den Pflegeheimen, von denen ich in meinem Buch „Schluss, sag ich!“ erzähle – hätten die positiver gedacht, dann hätten die jetzt kein Schließmuskelproblem und kein Zuckerproblem und wären auch nicht deppert im Kopf und wir müssten uns nicht um sie kümmern und das viele Geld ausgeben, wo man sie doch eigentlich auch freundlich zum selbstgesteuerten Abgang ermuntern könnte. Weswegen man es als politisches Thema betrachtet, über würdevolles Sterben zu räsonnieren, anstatt das Grundgesetzgebot auf würdevolles Leben umzusetzen.

Nee, das ist frech und ignorant und überheblich.

Optimierungswahn ist ignorant

Zu mir kommen Menschen, die ratlos sind und oft regelrecht verzweifelt. Das sind tüchtige Menschen, keine Loser. Und die bilden sich nichts ein, die haben auch keine Depression, sondern die stehen vor Problemen, die aussehen wie Felsgebirge. Ich weiß, dass Menschen dann einfach Ermutigung brauchen und neue Ideen, die aus dem kreisförmigen Problemdenken hinaus und zu Lösungen führen. Da hilft es nicht, auf die Straße zu gehen und zu schimpfen und zu jammern, wenn – wie jetzt geschehen – der Kaufhaus-Konzern durch Corona den Todesstoß versetzt bekam. Da muss man überlegen, welche Handlungsöglichkeiten es gibt. Da hilft auch kein Taschakka-Tschakka.

Lebenserfahrungen:

Ich persönlich habe in meinem Leben schon einige Tiefschläge eingesteckt und habe mich daraus wieder hochgeackert, neue Reifestufen erreicht.

Etwa war ich am Verzweifeln, als mir die Aufgabe ins Leben stürzte, mich um meine demente Mutter zu bekümmern. Jaja, hätte sie nicht besser für sich sorgen können? Mal so ein Aufbau-Training der modernen Art mitmachen können? Nein, hatte sie nicht. Das Unglück brach einfach herein. Auch seinerzeit, als kurz nach der Geburt meines Sohnes sein Vater, mein damaliger Ehepartner schwer an Krebs erkrankte, brach einfach etwas über uns herein. Und alsmein eigener Vater ein Jahr darauf an Krebs in kürzester Zeit starb, da verstand ich das Leben nicht mehr. Die Frage ist in solchen Situationen, wie man die Herausforderungen annimmt.

„Darf man Sie auch anrufen, wenn man sich fühlt, wie ein Wurm?!“ hat mal eine hernach Klientin beim ersten Gespräch am Telefon gefragt. Ich glaube, dass sich viele Menschen so fühlen, genau so, aber wenige geben  es zu. Ich fahre schon nicht mehr U-Bahn, weil mich die trübsinnigen Gesichter der dort Versammelten ins Entsetzen ziehen. Macht das ganze Optimismus-Tralala in Wirklichkeit trübsinnig?

Das Leben hat Zähne und manchmal zeigt es die auch. Das ist die Wahrheit.

Was, Zähne hat das Leben?

Ja, hat es. Nee, das gefällt mir auch nicht, aber es gehört offenbar zum Leben. Was mich empört an den Positiv-Hoch-Optimismus-Dampfplauderern, die das Belastende, die Krisen in einem Menschenleben so locker-flockig wegpalavern, ist, dass sie Menschen damit Stress machen. Zu all dem Unglück hinzu, was Menschen manchmal überfällt. Kranke Kinder kommen auf die Welt trotz aller Vorgeburtsdiagnostik, gerade so, als wollten sie sagen: Ja, shit happens und ich bin aber da und kein „Shit“. Ich bin ein Mensch und auch für mich gilt das Menschenwürde-Gebot des Grundgesetzes. Oder hier Ihre Nachbarin, die plötzlich mit dem blauen Auge schon wieder rumläuft und behauptet, die Treppe runtergefallen zu sein. Oder ihr Bruder, hat der auch nicht aufgepasst in den Trainings, dass er plötzlich mit 45 Krebs hat? Oder die wirklich dumme 50-Jährige, die nach 29 Betriebsjahren, justament vor der Unkündbarkeit, gefeuert wurde. Selber schuld, nicht gut aufgepasst!

Das Schlimme an den Positiv-Hoch-Optimismus-Dampfplauderern ist, dass sie damit Menschen dazu bringen, sich zu schämen, wenn es hakt im Leben. Und der Selbstzweifel ist das Schlimmste, weil er die Kraft raubt. Alte, Eltern mit behinderten Kindern, Arbeitslose – sie werden ausgegrenzt.

Zieldenken ist die Lösung

Jawohl, genau ich weiß nach 20 Jahren Menschenerfahrung, dass der alte Spruch, „jeder hat ein Päcklein zu tragen“ gemeirerweise mehr oder weniger stimmt. Nicht jedes Päcklein, das ist noch blöder, lässt sich „wegzaubern“. Es gibt Plagen, die nicht weggehen. Aber die Menschheit ist sehr schön weit damit gekommen, Strategien zu entwickeln, um Plagen zu erleichtern, um Dinge bessern zu machen, Krankheiten zu heilen, Behinderungen auszugleichen. Das kommt vom realistischen Zieldenken aus starkem Willen unter Einsatz enormer kreativer Kraft.

Mit gutem Kopf und originellem Denken können wir große Gestaltungsmacht entwickeln. Alle und jede/r auf individuelle Weise.

Glück ist Ergebnis von Handlung

Es gibt nicht ewiges Glück. Mir scheint, die Leben sind wellengängig. Rauf und runter. Alles, was ich versprechen kann, ist, wir können gemeinsam dafür sorgen, dass die Wellenbewegung auf viel höherer Frequenz viel höher rauf und viel weniger wieder runter geht in Ihrem Leben. Setzen wir dem Perfektheits-Hype und Optimierungswahn konkrete Aktion entgegen! Denken Sie ab sofort in Zielen!

Zweifeln Sie nicht an sich, wenn es klemmt, wenn das Leben Sie überfordert, wenn der Sohn aus der Spur läuft, wenn die Tochter Ihnen plötzlich vor die Füße spuckt, die Frau Sie unvermutet einen Langweiler nennt, der Mann seine Impotenz auch noch durchs Fremdgehen abreagiert und der Job Sie ohnehin fast zum Wahnsinn bringt, die Firma pleite gegangen ist, ohnehin der Stress und die Unfreundlichkeit immer mehr zunehmen.

Glück statt Stress

Lassen Sie sich von den Dampfplauderern nicht einreden, dass Ihr Missbehagen Zeichen Ihres Versagen sei. Hören Sie auf sich. Hören Sie nicht auf den Perfektheits-Hype. Bauen Sie Ihr Leben. Und zwar auf Ihre Art.

Mir scheint, die Zahl der Tschakka-Tschakka-Ideologen und die Zahl der hängenden Mundwinkel in grauen Gesichtern schon bei Teenagern stehen in Relation zueinander. So viel Verbissenheits-Stress statt Glück. Schenken Sie mal schnell der Nachbarin mit dem blauen Auge ein Lächeln. Wenn die ihre Freundlichkeit spürt, findet Sie den Mut, ihr Leben zu wandeln.

Und es fragt sich an dieser Stelle auch: Was ist eigentlich dieses Glück? Geht es um „Glück“ oder geht es um liebevolles Menschenleben? Das Glück unterwirft sich nicht dem Rekord- und Mengenprinzip. Das Glück ist eine Qualität. Mir scheint, die einzig wichtige.

Menschen müssen sich anschauen und Zeit füreinander nehmen. Das ist alles. Das glaub ich. Und Sie?

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Lassen Sie sich von mir beflügeln! Lifekicks.tv bin ich.