Münchner Mammutmarsch 2022

Mammutmarsch – eine Ermutigung fürs Leben

 

„Mammutmarsch“ – schon vor ein paar Tagen beim Joggen morgens an der Isar sah ich die Schilder. Gelb auf Schwarz, Signalfarben, auch von ganz müden Menschen noch zu sehen.

Dass an den Sommer-Sonntagen in Grünwald an der Isar schon morgens um 6 Leute mit Rücksäcken gut gelaunt munter fürbass schreiten Richtung Bad Tölz und Wolfratshausen, nach Süden, womöglich Richtung Alpen, das wundert niemanden. Motorradfahrer und Radler sind auch unterwegs.

Aber diese Leute heute früh mit ihren Rucksäcken, die schritten nicht munter fürbass, sondern gingen eher vorsichtig und langsam ihren Weg raus aus Grünwald Richtung München. Wohin wandelten die in Gruppen und so viele?

Ich hatte ja noch keine Ahnung.

100 Kilometer in 24 Stunden und zwar zu Fuß

Ich hatte heute früh eigentlich gar keine Lust zum Joggen. Aber Ziel ist Ziel und ein Ziel reißt dich eben hoch. Das war vorgenommen und das wurde also gemacht. Mindestens eine halbe Stunde. „Höchstens!“ dachte der faule Persönlichkeitsanteil in mir. „Höchstens eine halbe Stunde heute. Wir haben keine Lust!“

Ziele machen Feuer unterm Hintern. Das ist reine Hirnmechanik:

Selbsterfahrung beim Mammutmarsch

An der Hochleite über der Isar, wo ich fast immer mit dem Laufen starte, sah ich wieder diese langsam, bedächtig dahingehenden Leute mit den Rucksäcken. Die waren gut warm angezogen sogar. Mich in meinen leichten Jogging-Sachen wunderte es bei diesen 16 Grad Wärme schon in der Frühe.

Einige hatten Stöcke bei sich wie die Walker, die aber viel schneller immer dahinstöckeln, als diese Rucksackleute hier. Die setzten wie in Trance vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

Ich überholte einige

„Grenzen checken und so“

Ich kam an einem Mann vorbei, der auf einer Bank kauerte, den Rucksack neben sich, den Kopf in die Hände gelegt. „Betrunken womöglich?“ Ein bißchen sah das so aus. Er schaute hoch, als ich vorbeitrabte, das Gesicht sehr rot, aufgedunsen, der Blick völlig verzweifelt. Ein junger Mann, den ich überholt hatte, sprach ihn an. „Wie freundlich“, dachte ich. Hoffentlich hat er den Älteren wieder in Schwung gebracht.

Ich holte ein Pärchen ein, bei dem ich stoppte.

„Guten Morgen! Gehört Ihr womöglich zu diesem Mammutmarsch!“ sagte ich.
Die Frau schaute mich erschöpft an, zu müde zum Reden. Der junge Mann grüßte zurück: “Ja, tun wir. 100 Kilometer in 24 Stunden. Gestern mittag angefangen.“

Wie jetzt. Die waren die Nacht durchgelaufen?

„Ja“, sagte nun die Frau, „und wir sind jetzt bei 60 Kilometern, 40 oder so haben wir noch vor uns.“

Das war der Moment, wo ich begriff. Wo mir erst ein Licht aufging, was das für ein wahnsinniges Unternehmen war, dieser Mammutmarsch.
Marathon mit 42 Kilometern – da denken alle zu Recht „oh mein Gott, wie irre.“ Aber dieses schlichte Gehen hier die Nacht durch quasi von Mittag zu Mittag – ich staunte. Keine Fernsehkamera in der Nähe, einfach Gehen ohne Spektakel..

Alle Achtung, was für ein Unterfangen!

„Du liebe Güte! Und wie geht es Ihren Füßen!?“ fragte ich. Sie hatte weiche Joggingschuhe an.
„Ganz schlecht!“ sagte sie aber. Und der Mann hielt mir sein Smartphone hin mit dem Streckenverlauf: „In Dings, na, da drüben, Dingsirgendwas mit G, sind wir gestartet, jetzt gehts nach München rein.“

Dings mit G könnte heißen Gräfelfing oder Gauting oder Germering oder Krailling im Münchner Westen, wo der Mammutmarsch früher schon gestartet war, um im riesengroßen Bogen über Starnberger See, Kloster Andechs, entlang der Isar, vorbei an Grünwald irgendwo in München zu enden.

„Du testest Dich selber aus dabei!“

Das war seine Antwort auf mein „warum tun Sie das?“

Keine Gegner, keine Siegertreppchen, kein Werbevertrag: es geht darum, die eigenen Grenzen zu erleben, die eigene Verletzlchkeit, die Stärken.

Ich fand inzwischen im Internet etliche berührende Berichte von früheren Teilnehmern: Wie die Schmerzen sich anschleichen, wie die Füße Blasen kriegen, wie auch bei jungen Leuten die Knie anschwellen und die Hüften weh tun. Wie man munter plaudernd startet und die Gespräche mehr und mehr mit den Kilometern verstummen, wie Verzweiflung hochkocht bis zur Sinnkrise. Wie die Motivation stirbt und nur die Gruppe einen mitzieht.

Ich finde Geschichten des Sieges und Geschichten des Aufgebens nach 30 oder 50 Kilometern. „Als die Blasen an meinem Fuß platzten“, schrieb eine junge Frau, „da wusste ich: jetzt ist es aus, jetzt geht es nicht mehr weiter.“

Ich verstehe nun richtig, weshalb der eine Mann, als der Weg zur Marienklause steil runter an die Isar führte, nur stöhnte: „Auch das noch, ach du grüne Neune!“ Ich lerne aus den Berichten, dass nach 60 Kilometern das Hangabwärts-Gehen viel schmerzlicher ist, als das Hanghinaufgehen.

Als ich, um zu trösten, sagte, unten werde es dafür der Isar entlang wieder sehr schön werden, antwortete ein anderer: „Oh, im Moment ist gar nix schön.“

Das sind Lehren fürs Leben

Ich bin sehr, ich bin zutiefst berührt davon, dass heute noch Menschen solche Grenzerfahrungen suchen und durchziehen. Freiwillig, ganz unspektakulär, kein Werbe-Tammtamm, jede und jeder kämpft nur mit sich und für sich. Ich las, ungefähr ein Drittel der Teilnehmer kämen bei den 100-Kilometer-Märschen am Ziel an.

„Du kannst innerlich aufgeben – Hauptsache, Du gehst Schritt für Schritt einfach weiter.“

Diesen Satz fand ich in einem der Erfahrungsberichte, und mir kommt vor, als sei das eine Handlungsanweisung fürs ganze Leben, vor allem, wenn es mal hart kommt.

Und ich dachte an das kürzliche Kennenlerngespräch mit der 21-Jährigen, der noch jede Orientierung fehlt, die ganz ohne Kenntnis des echten eigenen Potenzials jenseits der Schul-Künstlichkeit und der wohlhabenden Überfluss-Welt der Eltern noch gar keine Ahnung hat, dass es zuweilen hart zugeht im Leben, so dass sie vor jeder Herausforderung zurückzuckt. Aus Angst wegzuschmelzen, den Dingen nicht gewachsen zu sein. Es fehlen den meisten ganz jungen Leuten die Grenzerfahrungen.

In aller Bescheidenheit darf ich anmerken: Ich bin dann heute selbstverständlich – dermaßen befeuert – die ganze volle Stunde gelaufen. Und ich werde das noch viel öfter tun, als bisher.

Die 100 Kilometer würde ich vermutlich nicht schaffen. Aber der Versuch reizt mich außerordentlich. Wer weiß. Die tapferen Mammutmarschierer haben mich angespornt.