Ich habe keine Kraft mehr
Kapitel in diesem Beitrag:
„Bitte helfen Sie mir! Ich habe keine Kraft mehr.“
Wenn Freunde bei Ihnen anrufen und das sagen, was machen Sie dann?
Es war eine wildfremde Frau, die gestern bei mir anrief und das sagte: „Ich habe keine Kraft mehr, ich kann das Leben nicht, ich weiß nicht weiter!“ Sie weinte, sie konnte kaum sprechen, Tränen erstickten ihr die Stimme.
Ich sagte zu Ihr: „Sie sind ganz schön mutig, dass Sie mich einfach anrufen und Ihre Verzweiflung outen!“
Das sei sehr gut, sagte ich ihr. Sie schniefte, ihr Atem beruhigte sich, sie konnte wieder sprechen.
„Mein Leben ist nur Scheiße, ich schaffe es nicht!“
Das duldet keinen Widerspruch! Keine Psychospielchen und Blabla. Also hörte ich ihr einfach zu.
Die Einsamkeit, das Alter, Leben ohne Freude
Die Frau sagte, sie sei über 70, gute Freunde seien bereits gestorben, sie habe rasend Angst. „Ich habe so viele Fehler gemacht in meinem Leben, so viele falsche Entscheidungen getroffen, und nun stehe ich da und frage mich, wie ich die nächsten 10 Jahre, die ich statistisch noch habe, leben soll. Und warum??“
Sie hatte quasi eine Kostern-Nutzen-Rechnung gemacht, und ihre Bilanz fiel schlechtestmöglich aus.
„Warum“, so fragte sie, „soll ich diese 10 oder womöglich 20 Jahre noch in dieser Sinnlosigkeit weitermachen?“ Was antworten wir so einem Menschen?
Wir müssen erst einmal zuhören.
Sie habe keine Kraft mehr …
Und sie erzählte. Von der enttäuschenden Ehe, von der dramatischen Geburt ihrer Tochter, der dann folgenden Krebserkrankung des Ehemannes, den sie jahrelang bis zur Heilung unterstützt habe, der dann depressiv geworden sei und eine Last. Der dann fremdgegangen sei und nur das Kind habe sie in der Ehe gehalten.
Sie erzählte vom Durchhalten. „Ich habe einfach immer weiter gemacht und gehofft, dass ich meine Ziele erreichen könnte, aber ich habe sie nicht erreicht. Ich bin ein gescheiterter Mensch!“
Nun war sie seit langem geschieden, die Tochter erwachsen, und ihre Hoffnungen, einen neuen Partner und wirkliche Liebe zu finden, hatten sich nicht erfüllt. Und sie glaubte auch nicht mehr daran, und das Geld sei knapp, weil die Steuern viel zu hoch seien. Die Corona-Lockdowns hätten ihre Einsamkeit ins Unerträgliche gesteigert, und die jetzige Regierung bestehe aus Idioten, deren Politik ihr zusätzlich Angst mache.
„Alles, worauf ich hoffen konnte, ist weg!!“ Sie begann wieder zu weinen.
„Denken Sie doch an das Positive!“
Das ist genau der Satz, den Sie einem verzweifelten Menschen niemals sagen dürfen. Denn ein verzweifelter Mensch ist verzweifelt, weil er nichts Positives mehr sieht. „Es ist auch alles so ungerecht, denn ich habe immer Anstand gelebt und Rücksicht genommen!“
Mir fiel die biblische Parabel von Hiob ein, dem es ähnlich ergangen war, wie dieser Anruferin und der sagte: „Mich ekelt mein Leben an. Ich will meiner Klage ihren Lauf lassen und reden in der Betrübnis meiner Seele.“
Dem Hiob hatten die Freunde versucht, gut zuzureden. Es habe sicher alles irgendwie einen verborgenen Sinn, sagten sie, und sie machten den Hiob damit wütend. Er verfluchte seine Geburt, er verfluchte unerhörterweise sogar Gott.
„Was halten Sie von Gott?“ fragte ich die Frau. Und sie antwortete: „Pah, Gott ist der Teufel, denn er hilft einem ja nicht! Der Teufel hilft aber den Unanständigen, denen geht’s gut, die sind glücklich!“
Bei Hiob kam nach dem Fluch die Wende!
Es gibt Leid, Leugnen ist dumm
Eine Klientin erzählte mir unlängst, sie sei in der Pubertät an der Sinnfrage völlig erzweifelt. Die Eltern schickten sie zu einem Therapeuten. Diesem sagte sie trotzig: „Ich weiß gar nicht, wieso ich hiersitze, es ist ja nicht sooo schlimm alles.“ Der Therapeut habe geantwortet: „Oh doch, es ist furchtbar schlimm bei Ihnen. Es gibt nur wenige, denen es übler ergeht, als Ihnen!“ Das habe sie verblüfft, irgendwie gut getan, und danach sei sie nicht mehr zum Therapeuten gegangen.
Wir Menschen brauchen alle fundamental das Gesehenwerden. Wenn jemand kommt und sagt „ich kann nicht mehr“ ist es ein Akt von Respekt und Akzeptanz zu sagen: „Ich glaube es Dir! Und, ja, es ist wirklich schlimm, wie es Dir geht!“
Ähnliches sagte ich der verzweifelten Frau. Denn wer mit über 70 das Gefühl hat, auf einem Lebens-Scheiterhaufen zu sitzen, muss bedauert werden. Niemand verdient es, dass man ihm sein Leid oberflächlich und politisch korrekt ausredet. Menschen verdienen es, dass andere ihnen zuhören. Menschen müssen ernst genommen werden.
Der ganze New-Age-Käse von „sieh es doch positiv, mache bloß keinen Mindfuck, wende Dich der Sonne zu“ und Blabla kann nur von Menschen kommen, die zu jung sind, um Leiderfahrung gemacht zu haben.
So können Sie helfen
Wenn sich ein verzweifelter Mensch an Sie wendet: Hören Sie zu!
Geben Sie der Verzweiflung Raum. Schenken Sie diesem Menschen Zeit.
„Ich kann nicht mehr!“ ist nicht das gewohnheitsmäßige Jammern, das manche Leute an sich haben. Echte Trauer verdient Respekt – und es ist Trauer, die hinter Verzweiflung steckt.
„Ich verstehe Dich absolut!“ sagen Sie dem vezweifelten Freund. Und Sie sagen vielleicht auch: „Du bist sehr mutig, dass Du Dich zur Wahrheit traust, dass du das Schöntun beendest.“
Und reden Sie nicht von irgendwelchen Wegen und „Du schaffst das schon!“
Das wird der Mensch selber merken, sobald das Herz erleichtert ist..
„Das wird schon wieder!“ wäre der allerblödeste und kontraproduktivste Satz.
Wenn Menschen leiden, müssen sie sich mitteilen dürfen und Akzeptanz finden, ohne als Schwächling und Versager verurteilt zu werden.
„Ja!“ sagen Sie, „Du hast Riesenfehler gemacht, und ja, das zu erkennen ist grauenhaft!“ Sie bestärken den anderen so in seiner Würde.
Danach werden sich die vitalen Selbstheilungskräfte melden.
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Wenn das Vertrauen wieder da ist, können Sie dem Freund helfen, doch noch neue Ziele zu finden und die Verzweiflung in neue Kraft zu wandeln:
Sie dürfen einem verzweifelten Freund ganz sicher nicht Bücher empfehlen, um wieder Mut zu fassen.
Aber Sie können sich meine Mut-Tanke selber kaufen, um im Notfall das Richtige zu tun!
Und ein paar Tage später können Sie dem Freunde diese Mut-Geschichte erzählen.
Jedenfalls braucht man Mut, um der Verzweiflung anderer standzuhalten und nicht wegzulaufen.