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Joachim Kaiser und das Pathos

 

Joachim Kaiser

Es bleibt einiges nach dem großen Leben

Begegnung (ein bißel schon zum Schämen): Das erste Mal nach der langen Hamburger Zeit war ich, neu in der Stadt, in der Münchner Oper, dem Nationaltheater. Welches Werk gegeben wurde, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls sang vorne die noch ziemlich frisch entdeckte Anna Netrebko. Sie hatte sich schlankest trainiert und sah schon sehr sexy aus mit ihrem stattlichen Dekolleté. Bei ihren Soli klatschten, schien mir, vor allem die Männer. Die Hälfte des Saales ungefähr. Die Frauen klatschen dafür dem Tenor neben ihr Beifall. Er war wirklich grandios. Ich fand, das sie oft falsch sang.

… ich bin Joachim Kaiser …

In der Pause kam ich an einem der Hochtische neben einem vergnügten älteren Paar zu stehen. Wir tauschten ein wenig aus, wie es uns bisher gefallen hatte. Weil die beiden so freundlich waren, bürgerlich, unprätentiös irgendwie und sehr inspiriert, traute ich mich zu sagen, ich fände, die Netrebko treffe ziemlich oft die hohen Noten nicht. Ich habe eigentlich von Musik keine Ahnung. Meine diesbezüglichen Fertigkeiten beschränken sich aufs gute Gehör.  Der sehr schöne alte Herr grinste arg amüsiert, als ich das sagte und schaute mich anerkennend an. Man redet dies und das, dann stellt man sich vor … um ehrlich zu sein, ich begriff in ziemlich jugendlicher Ignoranz tatsächlich erst am nächsten oder übernächsten Tag, mit wem ich da die Ehre gehabt hatte zu plaudern. Da las ich nämlich von diesem Joachim Kaiser einen tollen Artikel über die Aufführung und er schrieb, Netrebko werde überbewertet und treffe nicht jeden Ton.

Mei-oh-mei … andererseits ist in der Süddeutschen Zeitung ein Video zu sehen, in dem er berichtet, wie er in der Pariser Oper in der Loge Karajans „vor einem circa zweihundertjährigen dunklen Gespenst“ zu sitzen gekommen sei. Erst hinterher habe er begriffen: „Marlene Dietrich war da!“

Joachim Kaiser und das Pathos

In der Süddeutschen gibt es einige berührende Nachrufe. In einem heißt es: „.. Als man ihn einmal fragte, warum es solche Titanen der Kulturkritik wie ihn nicht mehr gebe, vielleicht nie mehr geben könne, antwortete er: ‚Weil die jungen Menschen keinen Mut zum Pathos haben‘.“ Jetzt was heißt Pathos –  Zweierlei im Grund. Kaiser meinte die Leidenschaftlichkeit, die Passion. Die zu tun hat mit Hingabefähigkeit auch an „Historische Details der klassischen Musik und ihrer Aufführungspraxis, die Feinheiten der Harmonielehre und den tiefen Sinn eines einsamen h-Moll … “ (Nachruf von Thomas Steinfeld, SZ). Erinnert mich an meinen Geschichtsprofessor von der Universität Freiburg, der uns gesagt hatte, ein einziges Buch exakt zu lesen, sei mehr, als viele oberflächlich. Er ist ein Kind der 1920er Jahre gewesen genau wie Kaiser. Erzeugt eine Jugend in Krieg und Schrecken Hingabefähigkeit? Immerhin ist die Bedeutung des zugehörigen Verbs erdulden und erleiden … bewirken Stress, das individuelle Leid Gefühlstiefe, Passion, Hingabe?

Pathos, Furor und die Begeisterung

Dann hätten die Wohlstandskinder, denen das Internet jedes Wissenspartikelchen der Welt unreflektiert auf den Teller legt, schlechte Karten. Bücher werden in dieser Welt nicht mehr ganz gelesen, sondern höchstens kopiert und am anderen Text-Ort wieder eingebaut – listig geklaut, nicht mühevoll erworben. Pathos, Zorn und Begeisterung haben denselben emotionalen Wurzelstrang. Intellektuelle Dünnbrettbohrer wären damit nicht zur Begeisterung fähig? Führt ewige Zerstreuung durch Herumsurfen, Schweifen, Gleiten, nie Verweilen an einem Ort zur hirnlichen Paralysierung? Beleidigt das Hinausbellen von uneingebetteten Wörtern via Twitter, WhatsApp etcetera nicht eigentlich die Fähigkeit des Großhirns, unendliche synapsengestützte Informationswege zu bilden? Die Hektik des Tippens allein schließt ja Hingabe aus. Das Überflutetwerden mit vielen, im Grunde wertlosen Informationspartikeln „Hallo, ich bin jetzt am Marienplatz, wo bist Du?“ verhindert das Verweilen im Moment, das aber Gefühle brauchen, um sich zu zeigen, sich zu äußern. Die verbreitete Coolness oder Gelassenheit in Wirklichkeit Indolenz? Es lebe das Pathos – auch wenns manchmal wehtut. Denn das hält sehr jung bis ins höchste Alter – wie man an Kaiser sehen konnte.

PS Das Foto oben zeigt einen Druck von Alighiero e Boetti: „Pulcinella“ – der Hanswurst, der Narr der Comedia Dell’Arte war ein tanzender Weiser, der dem Volk jeden Abend die Ereignisse des Tages kommenierte, mit Witz und Hingabe und intellektueller Großräumigkeit…